Zum Tode von Dr. J. August Ermert

Am 22. März 2022 ist Dr. J. August Ermert im Alter von 87 Jahren im Kreise seiner Familie verstorben. Wir trauern um Dr. Ermert, Gründer und Ehrenvorstandsmitglied der ARQUE, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der ASBH, Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie, Mitglied im Kuratorium der ASBH-Stiftung, Mentor und Arzt aus Überzeugung und Leidenschaft.

Foto in Schwarz-Weiß eines nachdenklichen Dr. Ermert und die Inschrift seines Namens und 1934-2022

Die Entwicklung der Behandlung und Begleitung von Menschen mit Spina bifida ist untrennbar mit dem Namen August Ermert verbunden. Über 50 Jahre lang hat er sich bis zu seinem Tode mit dem Behinderungsbild, seinen Auswirkungen und insbesondere mit den betroffenen Menschen und ihren Angehörigen und ihrem Umfeld befasst, stets die richtigen Fragen gestellt und fast immer eine Antwort gefunden. Sein gesamtes Berufsleben als Arzt widmete er als einer von nur wenigen Medizinern in Deutschland diesem speziellen Thema.

Das Leben von Dr. Ermert ist auf vielen Ebenen ein Beispiel für Lebensläufe im 20. Jahrhundert. Als Kind hat er die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges erlebt, auch die Bombardierung von Köln gehört dazu. Sein Berufsweg führte ihn zunächst in eine Ausbildung als grafischer Zeichner und dann über das Abendgymnasium zum Studium. Nur weil er sich bei der Immatrikulation in die falsche Schlange anstellte, schrieb er sich für den Studiengang Medizin ein. Der Rest ist – wie man gerne sagt – Geschichte. Nach dem Studium begann er 1968 an der Kinderklinik der Universitätsklinik Mainz. Gerade die Kinderklinik war unter ihrem progressiven Leiter, Professor Köttgen, ein Ort, in dem er sich entfalten und seine Interessen schärfen konnte. Professor Köttgen war ein Vorreiter der Sozialpädiatrie, der nach seinen Erfahrungen mit der Euthanasie im Nationalsozialismus bedingungslos gerade für die Versorgung von Kindern mit Behinderungen kämpfte. Es war eine Aufbruchszeit in der Medizin und insbesondere der Pädiatrie. Das medizinische Wissen für viele Erkrankungen und Behinderung mit dem Erkennen und Behandeln von lebensbedrohlichen Komplikationen stand erst ganz am Anfang. Es gab kaum Erfahrungen in der mittel- und langfristigen Versorgung. Neue diagnostische, operative und therapeutische Möglichkeiten kamen auf oder zeichneten sich am Horizont ab. 1969 wurde in Mainz die erste Kinderintensivstation Deutschlands eingerichtet. In dieser Zeit lernte Dr. Ermert auch die ersten Kinder mit Spina bifida kennen. Vielfach nahmen die Eltern weite Wege durch die Bundesrepublik auf sich, um die Möglichkeiten in Mainz zu nutzen.

Sommerfest 1981, Dr. Ermert im Gespräch
Dr. Ermert im Gespräch beim Sommerfest 1981

Dr. Ermert hat in seiner Arbeit alle medizinischen und therapeutischen Fortschritte seit Ende der 1960er Jahre erlebt und begleitet. Er hat die Hoffnungen, die sich mit jedem neuen Schritt in Diagnostik und Behandlung aufkamen, ebenso erlebt, wie auch die Enttäuschungen, wenn nach einem großen Fortschritt, nach einer übersprungenen Hürde die nächste Herausforderung auftauchte, oft mit weiteren lebensbedrohlichen Folgen. Er hat auch erlebt, dass therapeutische Ansätze zunächst aus mangelndem Wissensstand in die falsche Richtung gingen. Daraus entwickelte er einen seiner Grundsätze: Kein Fehler darf sich jemals wiederholen. Für die Umsetzung dieses Zieles war es für ihn unabdingbar auf dem Laufenden zu bleiben, sich auszutauschen und aus den Erfahrungen anderer zu lernen sowie auch die eigenen Erfahrungen weiterzugeben. Dieser Ansatz ‚kein Fehler darf sich je wiederholen‘ erklärt auch sein starkes Engagement über die Grenzen von Mainz und Rheinland-Pfalz hinaus. Im Bundesverband ASBH forderte er zur Zusammenarbeit möglichst aller an der Versorgung der Menschen beteiligten Ärztinnen und Ärzte aber auch der Therapeutinnen und Therapeuten auf und unterstützte tatkräftig dabei, den wissenschaftlichen Beirat ins Leben zu rufen und als das Fachgremium für Spina bifida zu etablieren.

Dabei widmete er sich stets voll und ganz den Patientinnen und Patienten. Er blieb nicht in der Klinik, sondern sah in der Niederlassung seine Zukunft und. 1974 machte er sich in der Mainzer Christofsstraße gemeinsam mit seinem Kollegen Callensee selbständig. Aus der Universitätsklinik nahm er viele Kinder als Patientinnen und Patienten in die neue Praxis mit. Seine Erfahrung und Kompetenz sprachen sich nahezu bundesweit herum. Eltern trafen sich mit ihrem Kind bei Arztbesuchen, schon in der Klinik und später dann auch in der Kinderarztpraxis. Sie tauschten sich aus, nahmen Kontakt zueinander auf, teilten ihre Sorgen und Fragen. Ihre Fragen richteten sie vertrauensvoll an Dr. Ermert. So entstanden die ersten Elternabende zu bestimmten, meist medizinischen, oder pflegerischen Themen. Hier wurde von Fachleuten Basiswissen zu Spina bifida vermittelt, Fragen der Eltern aus der Praxis beantwortet und Handlungsempfehlungen für die Bewältigung des Alltags vermittelt.

Sommerfest 1988, Dr. Ermert hat eine Kamera umhängen, lächelt und steht dabei auf einer Bierbank in einem Hof, um ihn verteilt Mitglieder, vor ihm ein leere Kinderwagen.
Mittendrin statt nur dabei.

Nach und nach entwickelte Dr. Ermert daraus das Handbuch, eine Sammlung von Grundlagenwissen zu fast allen Bereichen der Spina bifida – fremdwortfrei, verständlich und in der Praxis umsetzbar. Zunächst als Lose-Blatt-Sammlung, aufbewahrt und Blatt für Blatt vervielfältigt. Später wurde es ein ausgedruckter Ordner, der Eltern mit einem Neugeborenen in und an die Hand gegeben wurde. Mit diesem Austausch, den Elternabenden und dem Handbuch wurden und werden die Eltern Fachleute für ihr Kind. Eine notwendige Entwickelung, da das Fachwissen im Umfeld der Familien häufig nicht vorhanden war – auch nicht bei den niedergelassenen Kinderärzten und Therapeuten.

Für die damaligen Eltern, die Pioniere, wie Dr. Ermert sie liebevoll nannte, war alles neu, alles musste erarbeitet und erkämpft werden. Die Angebote und das Wissen, auf die heute die Familien ganz selbstverständlich zurückgreifen können, gab es noch nicht. Quasi aus der Praxis heraus wurde 1978 die Arbeitsgemeinschaft für Querschnittgelähmte Kinder (ARQUE) als Elternhilfeverein gegründet, um die Vernetzung auch auf rechtlich sichere Füße zu stellen und es zu ermöglichen, die Arbeit mit und für Eltern über Spenden zu finanzieren. Die ersten Sommerfeste folgten, danach Freizeit- und Familienwochenenden, Rollstuhlsportangebote und Seminare, darunter die gemeinsam mit dem ASBH veranstalteten ‚Basisseminare‘.

Anfang der 80 er Jahre ermöglichten kleinere und größere Spenden ein Büro einzurichten und eine Pädagogin einzustellen. Die Kontakte für die notwendigen Anträge kamen wiederum über Dr. Ermert zustande. Aus einer Mansarde im gleichen Haus wie die Kinderarztpraxis von Dr. Ermert heraus konnten Angebote, die bisher die Eltern alleinig leisteten, wie beispielsweise Klinikbesuche nach der Geburt, ausgeweitet, strukturiert und professionalisiert werden. Seit diesem Zeitpunkt können Eltern, Fachpersonen und heute auch Erwachsene selbst jederzeit mit dem Büro der ARQUE Kontakt aufnehmen – mit all ihren Fragen und Sorgen.  Im Vorstand des Vereins hat Dr Ermert sich als Ehrenmitglied stets mit konstruktiven, aber auch kritischen Fragen eingebracht und so mit dafür gesorgt, dass die Arbeit des Vereins nie stagnierte, sondern immer weiterentwickelt wurde. Auch der Name des Vereins wurde den Entwicklungen angepasst, aus der Arbeitsgemeinschaft für Querschnittgelähmte Kinder wurde die Arbeitsgemeinschaft für Querschnittgelähmte mit Spina bifida – ohne Alterseinschränkung, denn sein Blick ging stets über das Fachgebiet der Pädiatrie hinaus und die Versorgung auch und gerade der Erwachsenen wurde für ihn zunehmend wichtiger.

Dr. Ermert beim Waffelbacken
Ein Sommerfest ohne Waffeln von Dr. Ermert? Undenkbar.

Auch nachdem er sich aus der Praxis in den Ruhestand zurückzog, blieb Dr. Ermert stets der ‘Szene’ treu, hielt weiter Vorträge auf Kongressen und in der Universität Mainz. In der Organisation der jährlichen Tagung des wissenschaftlichen Beirats der ASBH in Fulda war er stets treibende Kraft, brachte Themen ein und organisierte Programmpunkte. Er begleitete neue Erkenntnisse konstruktiv kritisch/überprüfend und entwickelte die Inhalte seines Handbuchs weiter. Mit dem Verfassen der Elternbriefe für die Eltern neugeborener Kinder mit Spina bifida, in Zusammenarbeit mit einem Redaktionsteam der ARQUE, wurden die medizinischen Inhalte mit Fragen zur Sozialversicherung und vielen weiteren Nichtmedizinischen Fragestellungen zu einem allgemeinverständlichen und ansprechend gestalteten Werk für junge Familien umgewandelt. In der Veröffentlichung des ‘Lexikon Spina bifida & Hydrozephalus von A bis Z, ein Schlüssel zum besseren Verständnis’ 2011 und 5 Jahre später des Lexikons ‘Harnwege-Darm-Sexualität’ hat er gemeinsam mit der Stiftung ASBH und vielen weiteren Mitwirkenden seine Arbeiten zusammengefasst.

Für die gesicherte Versorgung erwachsener Betroffener setzte er sich weiter ein und unterstützte die Anstrengungen um die rechtliche Verankerung der Medizinischen Behandlungszentren für Menschen mit Behinderung (MZEB). Die von ihm in Zusammenarbeit mit dem Landeskrankenhaus initiierte Spina bifida Ambulanz in Mainz wurde zur Blaupause für viele Behandlungsstellen und diente als Grundlage der Anträge zur rechtlichen Verankerung der MZEB.

Wir verlieren einen tatkräftigen, visionären Arzt und scharfen sowie unabhängigen Geist. Seine einzigartigen fachübergreifenden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen, seine vorbehaltlose Empathie und sein unermüdliches Engagement werden uns in Erinnerung bleiben. Wer ihn kannte weiß, wen wir verloren haben. Er wird uns allen als Mensch wie als Mentor schmerzlich fehlen.